Einmal fragte den Flieger in Pommern ein Freund, ob Piloten eigentlich Zuneigung zu ihren Maschinen empfinden, ungefähr so wie Matrosen für ihr Schiff. Die unerwartete Frage war ein Auslöser für etwas, was Becker schon lange vergessen glaubte: „Mein Flugschüler damals fühlte ein hartes Vibrieren, so als würde man den Finger auf eine angeschlagene Klaviersaite legen. Sein Blick geht hinaus aus dem Fenster der Maschine, gleitet an der Unterseite des Flügels entlang und fällt auf das rechte Querruder, das auf- und ab zuckt, so wie das Ruder eines Bootes, das die Tragfläche hebt und senkt. Der Lärm der Motoren nimmt zu, der Sturm zieht am Rumpfbug vorbei durch die Ritzen der Windschutzscheibe. Die Maschine macht eine Spiralbewegung und taucht mit der Nase voran der Erde zu. Die Arme des Flugschülers kleben am Körper, sein Hinterteil ist fest in den Sitz gepresst. Er zieht das Rad, so sehr er kann, an seine Brust heran. Die Motoren laufen langsamer, denn sie mahlen nutzlos im leeren Raum, das Flugzeug bleibt stehen, scheint mit der Spitze nach oben in der Luft zu hängen. Der Rumpfbug beschreibt eine abfallende Kurve wie ein Schwimmer, der vom Brett schwimmt. Der Flugschüler glaubt, dies sei der schlimmste Augenblick seines Lebens, und schließt einfach die Augen vor ihm. Plötzlich lässt der Druck nach. Der Flieger hat wieder das Steuer übernommen, lässig in seinem Sitz hängend, nur eine Hand auf dem Rad. Die Maschine schlingt und hüpft noch etwas. Der Flieger übergibt seinem Schüler erneut das Ruder: Achte darauf, dass die Maschine die Horizontlinie schneidet, damit sie ausgerichtet und waagrecht liegt. Und kümmere dich nicht darum, was die Steuerung macht. Betätige alle Griffe und Pedale nur, um das Flugzeug auf der Horizontlinie zu halten. Der Schüler kapiert endlich: Alle Bewegungen basieren auf Wechselwirkung: eins hat das andere zur Folge. Er entspannt sich etwas. Der Flieger übernimmt wieder selbst das Rad, behandelt den Wind ganz persönlich und lässt sich von ihm nicht narren. Das Flugzeug bricht in den starken Böen nach links und rechts aus, das Heck hebt sich, die Motoren rasen wie eine Schiffsschraube, die aus dem Wasser ragt. Eine halbe Stunde später landen sie wohlbehalten, die Welt erwacht langsam wieder zum Leben. Wie ihn der Boden stützt und trägt, ein unbeschreibliches Gefühl.“
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